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Chemiekonjunktur – Chemiegeschäft im Schatten des Ukraine-Krieges

Trotz Schwierigkeiten in den Lieferketten zieht die deutsche Chemieindustrie eine positive Bilanz für 2021

17.03.2022 - Die Chemieindustrie hoffte auf weitere Erholung und ruhigere Fahrwasser im Jahr 2022. Diese Hoffnung wurde durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine zerstört.

Das Jahr 2021 war geprägt von Lieferengpässen, steigenden Energiepreisen und immer wieder neuen Coronaviruswellen. Insbesondere im zweiten Halbjahr machten sich die Probleme immer stärker im Chemiegeschäft bemerkbar. Trotz dieser Schwierigkeiten fiel die Bilanz der Branche für das Gesamtjahr dank der weiterhin hohen Nachfrage positiv aus. Die Produktion konnte deutlich um 5,3 % zulegen. Stark steigende Preise bescherten den Unternehmen ein zweistelliges Umsatzplus auf rund 225 Mrd. EUR (Grafik 1).

Am Jahresanfang 2022 bestand zunächst die Hoffnung, dass sich die Erholung der Branche in diesem Jahr in ruhigerem Fahrwasser fortsetzen könnte. Die Lieferengpässe schienen sich vorsichtig zu lösen. Auch die Automobilproduktion legte wieder langsam zu. Und das nahende Winterende nährte die Erwartungen auf wieder sinkende Energiepreise. Diese Hoffnungen wurden durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine zerstört.

Deutliche Bremswirkungen im Schlussquartal 2021

Zunächst aber ein Blick zurück. Zum Jahresende 2021 zeigten sich deutliche Bremsspuren im deutschen Chemiegeschäft. Die Engpässe in den Lieferketten sowie kräftig steigende Rohstoffkosten machten der Branche zunehmend zu schaffen. Die Nachfrage nach chemisch-pharmazeutischen Produkten blieb zwar hoch und die Auftragsbücher füllten sich weiter. Doch wegen der Störungen der Lieferketten konnte die Produktion kaum ausgeweitet werden und lag in der Chemie (ohne Pharma) auch wieder unter Vorjahr (Grafik 2). Die Kapazitätsauslastung ging sogar zurück.

Kostensteigerungen konnten zumindest teilweise an die Kunden weitergereicht werden. Dementsprechend kräftig legten die Erzeugerpreise und damit auch der Branchenumsatz zu. Dabei gerieten aber die Gewinnmargen unter Druck, da nicht alle zusätzlichen Beschaffungs- und Produktionskosten weitergegeben werden konnten. In diesem Umfeld beurteilten die Unternehmen die aktuelle Geschäftslage zurückhaltender als in den vorangegangenen Monaten.

Ukraine-Krieg zerstört Hoffnung auf Erholung

Noch zu Jahresbeginn waren die Unternehmen trotz der genannten Schwierigkeiten überwiegend zuversichtlich gestimmt. Sie gingen davon aus, dass sich die Auftriebskräfte im Jahresverlauf 2022 allmählich durchsetzen würden, denn das Pandemiegeschehen machte Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung. Die Situation hat sich mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine am 24. Februar grundlegend geändert:

Krieg und Sanktionsmaßnahmen werden deutliche Spuren in der Weltwirtschaft hinterlassen. Die Inflation wird Auftrieb erhalten und die Unsicherheiten zunehmen. Das dämpft Konsum, Investitionen und damit das Wachstum. Die Effekte sind erheblich. Für Deutschland errechnete das IW Köln vor kurzem in einer Modellrechnung die Auswirkungen eines Anstieges der Gaspreise gegenüber dem vierten Quartal um 50 %. Die Wirtschaftsleistung wäre in diesem Fall 2022 um 0,6 % und 2023 um 1,4 % niedriger. Noch stärker steigende Preise bis hin zu einem Versorgungsausfall hätten dementsprechend noch deutlich negativere Auswirkungen.

Wenn in den kommenden Wochen die Institute ihre Analysen und Prognosen vorlegen, wird das ganze Ausmaß des Schadens für die europäische Wirtschaft allmählich sichtbar werden. Statt eines endemischen Aufschwungs droht nun in Europa eine Rezession.

Russland wichtig bei Rohstoffen und Energie

Die hohe Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffimporten aus Russland macht Deutschland verwundbar. Bereits vor dem Konflikt waren die Strom- und Gaspreise für industrielle Kunden stark gestiegen. Und in den letzten Wochen hat sich die Situation weiter verschärft (Grafik 3). Das stellte die Chemieunternehmen aktuell bei einem Preisniveau auf historischem Allzeithoch für Erdgas zunehmend vor Probleme. Denn die Energiekosten sind in Europa – insbesondere in Deutschland – im internationalen Vergleich hoch. Das belastet die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts und erschwert die Weitergabe von Kostensteigerungen an die Kunden.

Laut einer Mitgliederbefragung des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) von Ende Februar litten knapp über 60 % der Chemieunternehmen unter einer starken Beeinträchtigung ihres Geschäfts durch hohe Energiepreise (Grafik 4). Nahezu kein Unternehmen zeigte sich nicht betroffen. Mit Absicherungsverträgen und veränderten Lieferkonditionen versuchten die Unternehmen sich Luft zu verschaffen. Aber das Grundproblem des schwindenden finanziellen Spielraums bleibt: 85 % berichten, dass sie steigende Produktions- und Beschaffungskosten entweder gar nicht oder nur zum Teil weitergeben können. Dies führte bereits vereinzelt zu Produktionsverschiebungen ins Ausland und Drosselungen einzelner Anlagen im Inland, da diese nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden konnten. Das gilt z.B. für die Ammoniakproduktion.

Lieferengpässe bei Rohstoffen werden sich weiter verschärfen

Stark steigende Energiepreise sind aber nicht das einzige Problem für die deutsche Industrie. Die deutsche Wirtschaft muss seit Monaten mit erheblichen Engpässen bei Vorprodukten und zunehmenden Störungen bei internationalen Lieferketten und Logistik zurechtkommen. Das dämpft trotz guter Auftragslage die Produktion. Prominentestes Beispiel hierfür ist der Chipmangel, der insbesondere der Automobilindustrie schwer zu schaffen macht. Störungen der Lieferketten, Logistikengpässe und Materialmangel belasten auch das Chemiegeschäft. Gut 60 % der Chemieunternehmen klagen über eine starke Beeinträchtigung ihres Geschäfts durch fehlende Vorprodukte. Durch den Ukrainekrieg und die Sanktionen nehmen die Störungen rund um die Lieferketten wieder zu. Russland ist hier vor allem bei den Metallen ein wichtiger Lieferant.

Auch als Absatzmarkt nicht unerheblich

Die direkten Verflechtungen der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie mit den Kriegsparteien sind zwar überschaubar, aber nicht unerheblich. Russland und die Ukraine machen in Summe rund 3 % des Auslandsumsatzes der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie aus. Die Branche ist zudem vor Ort mit Tochterunternehmen aktiv. Auf die Region entfallen rund 2 % der Direktinvestitionen der Branche im Ausland. Rund 70 Tochterunternehmen beschäftigen Mitarbeiter. Um sie machen sich die Unternehmen die größten Sorgen – insbesondere um die knapp 3.000 Beschäftigten in der Ukraine. 

Wirtschaftliche Folgen noch nicht abschätzbar

Für die deutsche Chemie haben sich die Aussichten durch den russischen Überfall auf die Ukraine massiv verschlechtert. Die Umsatzeinbußen durch wegbrechende Geschäfte mit Russland und der Ukraine dürften zwar aufgrund der überschaubaren Bedeutung gering ausfallen. Gut gefüllte Auftragsbücher könnten zudem ein Teil der Rückgänge durch andere Kunden zumindest teilweise kompensieren. Sicher ist dies allerdings nicht. Offen ist auch, wie stark die Nachfrage von Kunden und Konsumenten durch das Kriegsgeschehen auch außerhalb der Krisenregionen in Mitleidenschaft gezogen wird. Preissteigerungen bei Rohstoffen, Energie und zunehmend auch bei Gütern und Dienstleistungen werden sich negativ auf Konsum und Investitionen auswirken. Die Wachstumsaussichten für die Weltwirtschaft und damit auch für die Nachfrage nach chemischen Produkten haben sich deutlich eingetrübt.

Hauptproblem für die Chemie bleiben aber zunächst die steigenden Kosten für Vorprodukte und vor allem für Energie. Eine Weitergabe der steigenden Kosten an die Kunden ist aufgrund des bereits hohen Preisniveaus und aufgrund des internationalen Wettbewerbs in vielen Fällen nur noch teilweise möglich. Kommt es zu einem Versorgungsausfall bei Gas, bleibt eine massive Drosselung der Chemieproduktion wohl nicht aus.

Die VCI-Einschätzung von Mitte Dezember 2021 (Produktion +2 % und Umsatz +5 %) zur Entwicklung der Branche im laufenden Jahr hat sich überholt. Eine Prognose für das Gesamtjahr 2022 ist derzeit nicht möglich. Dazu sind die ökonomischen Verwerfungen durch den Krieg, die dynamische Entwicklung der Variablen und die Zahl der politischen Unsicherheitsfaktoren mit ihrer Tragweite zu komplex.

 

Autor: Henrik Meincke, Chefvolkswirt, Verband der Chemischen Industrie e.V., Frankfurt am Main

Zur Person
Henrik Meincke ist Chefvolkswirt beim Verband der Chemischen Industrie. Er ist seit dem Jahr 2000 für den Branchenverband tätig. Meincke begann seine berufliche Laufbahn am Freiburger Materialforschungszentrum. Der promovierte Chemiker und Diplom-Volkswirt studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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